Tod bei Kilometer 512 - Rheingau Krimi by emons Verlag

Tod bei Kilometer 512 - Rheingau Krimi by emons Verlag

Autor:emons Verlag [Verlag, emons]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863583422
Herausgeber: emons Verlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


5. Februar 1974

Ich war noch mal in Kiedrich. Frau Brosam hat mich mit ihrer Tante bekannt gemacht, der es wieder besser geht. Frau Gutschaft hat mich umarmt, und wir haben beide geweint. »Meine kleine Judith«, hat sie immer wieder gemurmelt. »Mein ganzes Leben habe ich gehofft, dich noch einmal zu sehen, und jetzt hat es Gott so gefügt.«

Hilde Gutschaft erinnerte sich genau an meine Geschichte. Meine Eltern kamen aus Wiesbaden. Ich hatte einen Bruder, der krank war, deswegen mussten meine Eltern fliehen. Mein Bruder hatte Epilepsie: der tanzende Junge. Ich verstand erst einmal gar nichts. Wieso mussten sie fliehen? Frau Gutschaft hat es mir erklärt: Damals hat man solche Menschen für erbkrank und schädlich gehalten, für nutzlose Esser. Man hat sie weggesperrt und umgebracht, in der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg und in Hadamar. Ihr hattet es doppelt schwer, sagte sie, Kinder aus Mischehen haben sie besonders schnell ermordet. Mischehen? Sie hat mir auch das erklärt. Meine Mutter war Jüdin. Deswegen musste die Familie weg. Weg aus Deutschland.

Eines Tages wurde Pfarrer Kreutzer von einem Kollegen, Pfarrer Spörl aus Lorch, gebeten, die Ehefrau eines Freundes und gläubigen Christen sowie deren Tochter für ein paar Tage zu verstecken. Die Familie müsste das Land verlassen, aber die Fluchthelfer bräuchten noch ein paar Tage, bis alles vorbereitet sei. Da die Klinik Eichberg, wo der Junge festgehalten wurde, ganz in der Nähe lag, wäre Kiedrich der beste Platz, die beiden unterzubringen. Pfarrer Kreutzer war bereit, zu helfen. »Kiedrich galt damals als recht widerspenstig. In Eltville nannte man uns »Neindorf« statt »Weindorf«, sagte die Alte verschmitzt lächelnd. »Wir mochten die damaligen Herren nicht, und die uns nicht.«

Wie ist es möglich, dass ich die ganze Flucht vergessen habe? Ich war immerhin fünf Jahre alt! Aber vielleicht war Vergessen das Beste.

Am Tag, als wir fliehen wollten, wurde ich krank, bekam hohes Fieber, und meine Mutter ging zum verabredeten Treffpunkt, wo sie meinen Vater und meinen Bruder treffen wollte, um die Abreise zu verschieben. Ich komme wieder, Kleine, höre ich meine Mutter sagen. Ich habe Frau Gutschaft gefragt, warum meine Mutter nicht zurückkam, aber das wusste sie nicht. Sie sei mit Pfarrer Spörl weggegangen, der wollte sie auch wieder zurückbringen. Aber dann hätten sie sich wohl doch zur Flucht entschieden. Es hat noch ein halbes Jahr gedauert, bis der Krieg zu Ende war. Meine Eltern haben sich nie mehr gemeldet. Kurz vor Ende des Krieges hat mich Pfarrer Spörl abgeholt, es hatte Gerede in Kiedrich gegeben, und er versteckte mich die letzten Wochen in seiner Gemeinde in Lorch.

Meine Eltern sind vor den Nazis geflüchtet, weil meine Mutter Jüdin und mein Bruder krank war. Ich war auf der Flucht hinderlich und wurde deswegen zurückgelassen. Später haben sie mich vergessen. Ich kann es nicht glauben.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.